Das Thema KI ist in aller Munde, für die einen ein Schreckgespenst, für die anderen gar Garant für ein künftiges kollektives Lebensoptimum. Es kommt einem Ernst Jüngers letzte größere Veröffentlichung „Die Schere“ (1990) in den Sinn. Dort ist die prophetische Rede von einer uns bevorstehenden Zeit der Titanenherrschaft. Doch bekanntlich droht den Titanen der sichere Sturz in den Abgrund, was auch der Titanic zum Schicksal wurde. Zudem zeigen sich im Lauf der Geschichte immer wieder selbstregulative, dem drohenden Verhängnis widerstrebende, dieses womöglich gar bannende Kräfte („Wo aber Gefahr ist….“). Und man muss sich nicht zwingend dem Hegelschen Weltgeist verbunden fühlen, um in dieser Geschichte das fortschreitende Wirken der Dialektik am Werk zu sehen. – In den letzten Beiträgen zum Thema „2025“ kam der lunare Charakter des Digitalen zur Sprache. In diesem Zusammenhang hier ein Gedicht Paul Celans aus der Sammlung „Atemkristall“. Ich bin bereits vor längerer Zeit an anderem Ort auf dieses Gedicht eingegangen. Hier ein weiteres Mal, nun aber mit Blick auf den beschleunigten Prozess der Digitalisierung (/ = Zeilenbruch im Original):
DIE ZAHLEN, im Bund / mit der Bilder Verhängnis / und Gegen-/ verhängnis.
Der drübergespülpte / Schädel, an dessen / schlafloser Schläfe ein irr-/ lichternder Hammer / all das im Welttakt / besingt.
Celan macht es dem Leser mit seinen entlegenen, zunehmend enigmatischer werdenden Metaphern wahrlich schwer. Manchmal aber kommt man dem Verständnis näher, sieht man die Celanschen Metaphern als Traumbilder. Celan war Jude, er soll Kenntnis der kabbalistischen Tradition gehabt haben, in der die Zahlen bekanntlich von weitreichender Bedeutung sind. Es ist aufschlussreuch, dass der Traum in den Gestaltungen vieler jüdischer Künstler und Gelehrter eine Schlüsselrolle spielt. Man denke nur an Marc Chagall, an die immer wieder aus dem Traumhaften steigende Dichtung Kafkas, auch wohl an die Gemälde Mark Rothkos, um nur wenige zu nennen. Und der erste, der intensive tiefenpsychologische Deutungen des Traumlebens veröffentlichte, war der Jude S.Freud (Lit.: Friedrich Weinreb: Kabbala im Traumleben des Menschen). Aufschlussreich ist, dass es im Alten Testamant zahlreiche Hinweise auf Träume gibt. Die bekanntesten dürften die Träume sein, die Joseph dem Pharaoh deutet. Zahlreiche Träume oder Andeutungen zu diesen finden sich im Buch Daniel.
Von Bildern ist auch die Rede im obigen Gedicht, verbunden mit der Bilder Verhängnis. Dieser Genitiv ist ein doppeldeutiger, ein reziproker (vgl. die „Mutterliebe“: a) die Liebe der Mutter zu ihrem Kind, b) die Liebe des Kindes zu seiner Mutter). Die Bilder sind verhängt, verhüllt z.B. durch einen Vorhang. Sie selbst aber „verhängen“, insofern, als sie Schicksalhaftes, ein Fatum verhängen können. Das Gegenverhängnis ist sowohl Verhängtes wie auch Verhängendes. Näheres dazu findet sich in der Deutung durch H.-G.Gadamer: „Wer bin Ich und wer bist Du?, Kommentar zu Celans ‚Atemkristall‘ “ (Bibliothek Suhrkamp). Es zeigt sich im obigen Gedicht die Ambivalenz der Zahl: Sie kann als irrlichternder Hammer das Erleben der Zeit in der Form des Zählens der Zeit darstellen. (Nebenbei, Stichwort Schädel, sei verwiesen auf das der Kunst des 17. Jahrhunderts geläufige Thema der Vanitas, häufig dargestellt durch einen Totenschädel.) Man könnte sprechen von der blinden, bildlos-endlosen Sequenz der Zahlen im Raum der Schlaflosigkeit (schlaflose Schläfe) , also dem Bereich des Verhängens, auch des Verschwindens der Bilder. Es gibt zu denken, dass Schlaflosigkeit eine der verhängnisvollen Krankheiten der Gegenwart geworden ist – erst kürzlich in der Wochenzeitschrift Zeit ausführlich dokumentiert. Man nimmt an, dass diese Schlaflosigkeit auch eine Folge des Übermaßes an mental-digitaler Zufuhr ist, dem sich jeder ausgesetzt sieht.
Dann aber der Kontrapunkt zu diesem, dazu aus dem Text Gadamers: „Es ist … nicht nur ein unaufhörliches Pochen der Vergänglichkeit, sondern ist zugleich wie ein Schleier, der über der Gegenwart liegt und den zu vergessen jener andere Schleier sich herabsenkt, der bunte Teppich der Bilder“ („Schleier“ von mir hervorgehoben). Der Schleier kann auch derjenige der indischen Maya sein. Und der „bunte Teppich der Bilder“ lässt an die durch das Digitale endlos produzierten Bilderwelten denken (siehe die global verbreitete Handywelt, siehe den endlos ausufernden Zustrom digital erzeugter und vermittelter Filme…). Die Zahlen also können das Dasein verschleiern. Ich erinnere an die Hinweise zur Bannung, Verzauberung, gar „Verhexung“ durch die lunaren digitalen Welten und in den lunaren digitalen Welten im Blogtext vom 08.12.2023 (Kun 2025 cont., scrollen) Aber – wiederum die kabbalistische Tradition – das Zählen ist auch ein Er-Zählen – siehe auch englisch to tell (auch kassieren)- tale, niederländisch taal = a) Zahl und b) Erzählung. Zahlen sind gestaltbildende Kräfte – siehe die Formen, einfache wie komplexe, welche die Zahlen im Raum der Geometrie und Trigonometrie und auch in der Natur ausbilden. So ist denkbar, dass es kontrapunktisch zum derzeit ins Extrem laufenden digitalen Influx zu einem vertieften Verständnis der Eigenart der Zahlen kommen kann. Schließlich, so eine kabbalistische Überlieferung, schuf Gott als erstes die Zahlen. Zahlen sind Wesenheiten, keine toten abstrakten Chiffren, die allein der Verrechnung des Quantums dienen.
Der erste bedeutende Gedichtband Celans, erschienen 1952, zeitgleich mit dem Fälligwerden des zweiten sekundärprogressiven Vollmondes, hieß: „Mohn und Gedächtnis“ – siehe die Polarität von Sonne und Mond (im Krebs) im unten abgebildeten Horoskop, applikativ auf Pluto gerichtet. Ein Zitat aus dem in dieser Sammlung enthaltenen Gedicht „Der Stein aus dem Meer“: „Im Endlichen wehen die Schleier.“ – siehe den Schleier, der über der Gegenwart liegt (s.o., Gadamers Deutung).
Celan, „den harten Novembersternen gehorsam“ (Selbstaussage, die Sonne auf dem ersten Grad Schütze), ist in den letzten Jahren zunehmend aus dem Blickfeld gerückt (ein Schicksal, das er mit anderen Dichtern, Lyrikern des vergangenen Jahrhunderts teilt). Sein hundertster Geburtstag (2020) erbrachte wenig an Resonanz. Zu entlegen scheinen derzeit seine absoluten Metaphern. Bedauerlich wäre es, bliebe am Ende allein die jedem Gymnasiasten bekannte „Todesfuge“ in Erinnerung.
Zweiter sekundärprogressiver Vollmond P. Celans, wirksam ab 1952: